crowdhouse Investment Report | 2. Quartal 2025
crowdhouse veröffentlicht in jedem Quartal den «crowdhouse Investment Report». Die Publikation liefert eine Beurteilung der jeweils aktuellen Marktsituation...
Am 19.06.2025 hat die SNB den Leitzins auf 0 % gesenkt – und damit auf den tiefsten Stand seit Juni 2022. Vor dem Entscheid war offen über die Wiedereinführung von Negativzinsen spekuliert worden. Die vorläufige Antwort: «Null ist nicht negativ». Wie lange wird das so bleiben? Die SNB hat sich mit dem jüngsten Schritt bewusst an einem zentralen Scheidepunkt positioniert. Mit welcher Ausgangslage ist sie nun konfrontiert? Und wie wird sie in Zukunft entscheiden? Wir wagen eine Lagebeurteilung.
Als Martin Schlegel Ende September 2024 sein Amt als Präsident der Schweizerischen Nationalbank übernommen hat, schien die geldpolitische Welt in der Schweiz eigentlich in Ordnung. Sein Vorgänger Thomas Jordan hatte eine lange Phase von Negativzinsen beendet und die Rückkehr in eine «geldpolitische Normalität» mit mehreren Zinsanhebungen zwischen Juni 2022 und Juni 2023 ohne nennenswerte Aufregung vollendet. Schlegel hatte das Ruder zwar inmitten eines erneuten Senkungszyklus übernommen – bei seiner ersten geldpolitischen Lagebeurteilung im September 2024 verkündete er die dritte Senkung des Leitzinses um 25 Basispunkte in Folge –, dass die SNB in der Folge diesen Kurs allerdings derart konsequent weiterverfolgt, hätte damals kaum ein Experte zu prognostizieren gewagt. Damals schien es, als hätte die SNB ihre Segel mit klarem Stabilitätskurs in sehr ruhigen Gewässern gesetzt.
Knapp neun Monate später ist die Lage für die SNB wesentlich komplizierter und ungemütlicher geworden. Gründe dafür gibt es zahlreiche: Das einstige Inflationsproblem hat sich unerwartet schnell in ein Deflationsproblem gewandelt. In den USA ist seit November 2024 unter Präsident Donald J. Trump eine neue Administration an der Macht, die nicht damit zurückhält, wesentliche, auch für die SNB zentrale Parameter auf den Kopf zu stellen – allen voran mit der Einführung von «reziproken» Zöllen. Zu guter Letzt haben die jüngsten militärischen Interventionen der USA im Iran deutlich aufgezeigt, wie sehr die SNB mit ihren verfügbaren Mitteln im Kontext solch grundlegender geopolitischer Entwicklungen gegen Windmühlen kämpft.
Mit dem jüngsten Zinsentscheid vom 19.06.2025 hat sich die SNB selbst an einem Wendepunkt positioniert. Die Zinsen liegen neu bei 0 %. «Null ist nicht negativ» war ein Satz, der nach diesem Entscheid häufig zu lesen und zu hören war. Ab letzten Donnerstag ist allerdings damit klar: Wenn die SNB in Zukunft weiter mit einer Senkung des Leitzinses gegen die Stärke des Frankens ankämpfen möchte, dann bedeutet das die unvermeidliche Rückkehr zu Negativzinsen. Was bedeutet diese Ausgangslage für die SNB? Wir wagen den Versuch einer Einordnung anhand verschiedener Aspekte.
Bei der anschliessenden Pressekonferenz zur geldpolitischen Lagebeurteilung vom 19.06.2025 dominierte eine einzige Frage: Ist das das Ende des Senkungszyklus oder steht die Schweiz vor der Wiedereinführung von Negativzinsen? Die SNB hat am letzten Donnerstag mit bemerkenswerter Deutlichkeit versucht, sich vom Einsatz dieses Mittels zu distanzieren. Die Hürden für weitere Zinssenkungen in den Negativbereich seien hoch – unvergleichbar höher als bei Zinssenkungen über der 0 %-Grenze. Die SNB betonte, wie sehr sie sich der Unbeliebtheit und den negativen Nebeneffekten dieser Massnahme bewusst ist. Zum einen scheint das Interesse seitens der SNB, eine entsprechende Rückkehr zu Negativzinsen so lange wie möglich zu verhindern, ernsthaft zu sein. Zum anderen entsprechen diese Aussagen aber auch genau dem, was eine Nationalbank in einem solchen Moment sagt, um den Erwartungshaltungen der Märkte so viel Wind wie möglich aus den Segeln zu nehmen.
Die Woche nach dem Zinsentscheid vom 19.06.2025 hat deutlich gemacht, wie schnell die SNB mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln an Grenzen stösst. Der Entscheid stand voll und ganz im Zeichen der Stabilisierung des Schweizer Frankens. Gleichzeitig hat sich in den sieben Tagen nach dem Entscheid der Franken gegenüber dem Dollar stark aufgewertet. Der Schweizer Franken hat seine Aura als «sicherer Hafen» trotz der neuen 0 %-Marke nicht eingebüsst – im Gegenteil. Der Grund dafür ist offensichtlich: Der mächtigste Mann der Welt hat beschlossen, den Iran anzugreifen. Geldpolitische Massnahmen von Nationalbanken – und das gilt explizit nicht nur für die SNB – haben im Verhältnis zu einschneidenden geopolitischen Ereignissen zusehends weniger Durchschlagskraft. Eine Dynamik, die insbesondere auch seit 2020 zu beobachten war. Die erstarkte Inflation war zu einem grossen Teil auf durch Corona-Massnahmen gestörte Lieferketten und explodierende Energiepreise im Zuge des Ukraine-Konflikts zurückzuführen. Der Rückgang der Inflation basierte zu einem grossen Teil auf der entsprechenden Beruhigung dieser Grundbedingungen. Ganz ohne Wirkung dürften auch geldpolitische Massnahmen nicht gewesen sein – inwiefern und wie stark sie sich ausgewirkt haben, ist allerdings kaum zu modellieren.
Entwicklung des CHF im Vergleich zum Dollar seit dem Entscheid vom 20. Juni 2026. Quelle: Morningstar
Die Verhinderung einer starken Aufwertung des Schweizer Frankens ist zusehends wieder in den Fokus der SNB gerückt. Dafür stehen ihr grundsätzlich zwei Instrumente zur Verfügung: die Senkung des Leitzinses und Interventionen am Devisenmarkt. Allerdings ist Letzteres politisch heikel: Die USA haben die Schweiz bereits auf eine Beobachtungsliste für potenzielle Währungsmanipulation gesetzt. Zwei der drei Kriterien, die das US-Finanzministerium dafür heranzieht, erfüllt die Schweiz bereits – nämlich einen hohen bilateralen Handelsüberschuss mit den USA sowie einen hohen Leistungsbilanzüberschuss. Das dritte Kriterium – anhaltende, einseitige Interventionen am Devisenmarkt im Umfang von mehr als 2 % des BIP über zwölf Monate – wurde in letzter Zeit nicht erfüllt. Sollte sich das wieder ändern, etwa durch verstärkte Devisenkäufe zur Schwächung des Frankens, könnte die Schweiz offiziell als Währungsmanipulatorin eingestuft werden. Das hätte insbesondere in der aktuellen Lage, in welcher sich die Schweiz inmitten sensibler Zollverhandlungen mit den USA befindet, eine enorme Sprengkraft.
In Anbetracht dessen, Negativzinsen verhindern zu wollen, dürfte die Schweizer Nationalbank beruhigend auf ihre eigenen Inflationsprognosen schielen. Ihre Prognose geht davon aus, dass die Inflation beim derzeitigen Zinsniveau in den nächsten zwei Jahren wieder steigen wird, und zwar auf 0,5 Prozent im Jahr 2026 und auf 0,7 Prozent im Jahr 2027. Die Krux dabei: Die Prognosen der SNB waren in der Vergangenheit alles andere als präzise. Gleichzeitig bleibt die geopolitische Lage ein schwer kalkulierbarer Unsicherheitsfaktor. So könnte etwa eine längerfristige Intervention der USA im Nahen Osten nicht nur die Energiekosten massiv ansteigen lassen, sondern gleichzeitig zu einer Abschwächung des US-Dollars führen – beides Entwicklungen, die den Teuerungsdruck in der Schweiz rasch wieder erhöhen und die Spielräume der SNB empfindlich einschränken könnten.
Wie offen die Ausgangslage für die kommenden Monate ist, zeigt sich auch in den Äusserungen von befragten Experten. Gemäss einer jüngsten Umfrage der Agentur Bloomberg gehen neun von 16 Prognostikern davon aus, dass in diesem Jahr keine weiteren Zinssenkungen folgen werden. Sieben sind anderer Meinung. An eine solche geldpolitische «Prognoseunsicherheit» muss sich die Schweiz erst wieder gewöhnen. Zur Erinnerung: Zwischen 2015 und 2022 waren die geldpolitischen Erwartungshaltungen während sieben Jahren zementiert. Ob, wann und wie schnell wir wieder in ein derart stabiles Zinsumfeld gelangen, bleibt völlig offen.
Mit der Zinssenkung auf 0 % steht die Schweizerische Nationalbank an einem geldpolitischen Scheideweg. Die nächsten Schritte hängen weniger von ihrer eigenen Einschätzung der Inflationsentwicklung ab als von globalen Spannungen und wirtschaftspolitischen Entscheidungen anderer Staaten. Zwar betont die SNB, Negativzinsen möglichst vermeiden zu wollen – doch die Spielräume dafür könnten schnell enger werden. In einem Umfeld wachsender Unsicherheit dürfte die Geldpolitik damit wieder stärker zur Reaktion als zur Gestaltung gezwungen sein.